Mittwoch, 20. Juli 2016

Herrlich subversiver Kunstraub: Berlin vor 40 Jahren, Ulay raubt Spitzwegs armen Poeten

Tatort Berlin, Neue Nationalgalerie 1976: Ulay nähert sich mit typisch-unscheinbar auf dem Rücken verschränkten Händen dem armen Poeten. Ein Screenshot des Videos zur Aktion © Ulay /  Courtesy of LIMA Amsterdam.

Es gibt aktuell viele Gründe an die legendäre, von vielen aber vergessene Aktion des Künstlers Ulay »Da ist eine kriminelle Berührung in der Kunst« zu erinnern: Die voraussichtlich bis 2020 andauernde, sanierungsbedingte Schließung der Neuen Nationalgalerie, die unheimlichen Geschehnisse in der Türkei, die von der sogenannten Flüchtlingskrise reanimierte Integrationsdebatte, der Wandel Kreuzbergs

Der Künstler Ulay (Frank Uwe Laysiepen) gilt als ein wichtiger Vertreter der  Performancekunst in den 1970er Jahren in Deutschland. Besonders bekannt wurde er durch seine Performances mit Marina Abramović. Er besuchte die Kölner Werkschulen und das Verhältnis zwischen Körper, Raum und Gesellschaft gilt als ein zentrales Thema seines Schaffens.

Der erste Kunst-Kunstraub des armen Poeten in Berlin. Ein Screenshot des Videos zur Aktion © Ulay /  Courtesy of LIMA Amsterdam.

Kunstaktion: Hitlers Lieblingsbild in Kreuzberg?

Aber was hat Ulay eigentlich genau getan? Der Künstler beschreibt seine filmisch dokumentierte Performance (siehe dazu den Eintrag bei medienkunstnetz.de) selbst detailliert, hier folgt eine Kurzfassung der Aktion:

Vor dem Haupteingang der Hochschule der Bildenden Künste positioniert Ulay eine Fotofahne, eine Reproduktion des Spitzweg-Gemäldes ‚Der arme Poet‘, dann fährt er zur Neuen Nationalgalerie, parkt und betritt das Museum. Nach unverdächtigem Schlendern nimmt Ulay den ‚Der armen Poeten‘ von der Wand, packt das Werk unter den Arm und läuft verfolgt von Museumwärtern zu seinem Wagen. Er steigt ein und fährt mit dem Poeten nach Berlin-Kreuzberg.  

Der arme Poet im vergammelten Ghetto...

‚1976 habe ich mich in Kreuzberg aufgehalten, und es war einfach grauenhaft, ein verrottetes, vergammeltes Ghetto, in dem die Türken leben mussten, weil sie nirgendwo anders gern gesehen waren‘, so Ulay im Gespräch mit Gunnar Luetzow im Jahre 2013.


Ulay auf der Flucht, verfolgt von Museumswärtern. Unter seinem Arm, der arme Poet. Ein Screenshot des Videos zur Aktion © Ulay /  Courtesy of LIMA Amsterdam.

In Kreuzberg geht Ulay mit dem Spitzweg unterm Arm zum Künstlerhaus Bethanien. Hier hängt er vor dem Haupteingang eine zweite Reproduktion des Gemäldes auf. Dann geht der Künstler in die nahe gelegene Muskauerstraße. Er betritt ein Haus für Gastarbeiterfamilien. In der Wohnung einer türkischen Familie hängt Ulay den Spitzweg an die Wand.

Vom Museum zum Künstlerhaus zur Gastarbeiterwohnung...

Kurz nach der Neu-Inszenierung des Poeten in Kreuzberg informierte Ulay in Kooperation mit Studiogalerie Mike Steiner das Museum und die Öffentlichkeit vom Raub als Angriff auf den Kunstbetrieb. Die Tat wurde penibel dokumentiert. Wilma Kottusch und Mike Steiner filmten insgesamt 30 Stunden, das Ergebnis ist ein knapp 30 minütiges Video.


Ulay informiert das Museum und die Öffentlichkeit. Ein Screenshot des Videos zur Aktion © Ulay /  Courtesy of LIMA Amsterdam.

Heute, 40 Jahre später im Jahr 2016, erscheint Ulays inszenierter Kunstraub geradezu märchenhaft. Ihm gelang ein aus heutiger Perspektive unglaublicher Coup. Eine präzise geplante, dokumentierte und öffentlichkeitswirksame Kunstaktion mit politischem und institutionskritischen Hintergrund. Denn mit seiner dadaistisch anmutenden Intervention übertritt Ulay nicht nur die Grenzen der Legalität, er spielte mit Klischees und offenbarte gesellschaftliche Missstände.

'Millionen-Bild durch den Notausgang' titelt die Boulevardpresse

Ulays Performance lenkt die Aufmerksamkeit auf einen verdrängten Aspekt der gesellschaftlichen Realität der jungen BRD, die Lebenssituation der sogenannten Gastarbeiter. Zugleich thematisiert seine Aktion die Konventionen des Kunstbetriebs, überschreitet die Grenzen zwischen den (Berliner) Kunsträumen Akademie, Museum und Künstlerhaus. Der Skandal, die Empörung der Presse ist ein wohlkalkulierter Teil der Arbeit.  


Die Schlagzeilen der Boulevardpresse zur Kunstaktion. Ein Screenshot des Videos zur Aktion © Ulay /  Courtesy of LIMA Amsterdam.


Für seine Aktion stand Ulay vor Gericht und hatte die Wahl zwischen einer Gefängnis- und einer Geldstrafe. Angesichts dieser Optionen verließ er Deutschland, wurde jedoch zwei Jahre später verhaftet. Einem befreundeter Kunstmäzen kaufte in schließlich frei.

Doch die Kunstraubgeschichte um den armen Poeten ist damit noch nicht zu Ende. Denn 1989 wurde der Berliner Spitzweg ein zweites Mal, jetzt von einem Duo, das sich bis heute nicht als Künstler zu erkennen gibt, geraubt. Spitzwegs armer Poet (genauer gesagt, die im Berliner Museumsbesitz befindliche Version des Gemäldes) wurde damals im Schloss Charlottenburg ausgestellt.

Null Problemo - der echte Kunstraub von 1989


Die beiden Männer hatten sich im Gegensatz zu Ulay getarnt. Einer saß in einem Rollstuhl, der mit dem Aufkleber ‘Null Problemo’ versehen war, der andere mimte den Betreuer, der den vermeintlich Versehrten schob. Als dieser plötzlich aufsprang, rissen sie das Werk von der Wand, schlugen einen Wachmann nieder und flohen. Und der arme, arme Poet ist bis heute verschollen.

Service:
- Claudia Bodin über die Performance Legende Ulay und sein aktuelles Werk (art-magazin.de, 2016), hier
- Christian Jankowski über Ulays Aktion (tagespeigel.de, 2014), hier
- Gunnar Luetzow im Gespräch mit Ulay (art-magazin.de, 2013), hier
- Ulays Werk Da ist eine kriminelle Berührung in der Kunst bei medienkunstnetz.de, hier
- Ulays Video ‚Da ist eine kriminelle Berührung in der Kunst‘ in der LIMA-Datenbank, hier

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