Montag, 6. Februar 2017

Berlin: Neues vom Totalkünstler Timm Ulrichs - Die Welt im Wohnzimmer

Mit diesem Bild lädt WENTRUP zur kommenden Ausstellung von Timm Ulrichs (Die Welt im Wohnzimmer. Das Fernsehgerät als Sockel und Hausaltar, 2001/09) © Timm Ulrichs, VG Bild-Kunst

In Berlin gibt es in Kürze eine neue Ausstellung mit Werken des bemerkenswerten Totalkünstlers Timm Ulrichs zu sehen. Als solcher ist er seit 1959 aktiv und gründete die „Werbezentrale für Totalkunst, Banalismus und Extemporismus“. Ihr Ziel war die Verbreitung, Entwicklung und Produktion von Totalkunst. 

Ulrichs ist eine der prägenden, viele inspirierenden Figuren des ausgehenden 20. Jahrhunderts, auch wenn es - wie er leider etwas zu oft beklagt - nicht so viele zugeben wollen. Doch wer das Werk des in wenigen Wochen 77 Jahre alt werdenden Künstlers kennt, der kann verstehen, warum dieser so oft, auf das Thema Plagiat kommt. Wen wundert es, dass bei solch einem kreativen Potential und einer über 55jährigen Produktion zahlreiche Arbeiten und Ideen von anderen Kunstschaffenden - bewusst oder unbewusst - wieder aufgegriffen werden...
  
Timm Ulrichs ist ein Kunst-Besessener und seine Totalkunst daher nur konsequent. Die Tätowierung auf seinem Augenlied ist legendär. 1961, als 21jähriger, erklärte er sich zum „ersten lebenden Kunstwerk“ und organisierte 1966 eine öffentliche „Selbstausstellung“ in Frankfurt am Main. Dass sein Werk, sein kritischer wie humorvoller Ansatz über seine eigenen Arbeiten hinaus Spuren hinterlassen wird, ist nicht zuletzt seiner umfangreichen Lehrtätigkeit geschuldet. 

Über seine Ausstellungen hinaus war Ulrichs als Lehrer in der Kunstwelt präsent. Er prägte zahlreiche Studierende und das über 35 Jahre. Von 1969 bis 1970 als Gastprofessor an der Staatlichen Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig und von 1972 bis 2005 Professor für Bildhauerei und Totalkunst am Institut für Kunsterzieher in Münster, seit 1987 die sogenannte Staatliche Kunstakademie Münster).


Geht uns manchmal auch so, die Arbeit 'Ich kann keine Kunst mehr sehen' von Timm Ulrichs aus dem Jahre 1975. © Timm Ulrichs, VG Bild-Kunst

Ich kann keine Kunst mehr sehen, klagte Ulrichs schon seit 1975, verkleidet als Blinder mit ernstem Blick, im Trenchcoat mit Blindenstock und -binde am linken Arm. Eine Arbeit, die oft als eindimensionaler Kalauer verstanden wird und als Postkartenmotiv im Shop zahlreicher Museen der deutschsprachigen Kunstszene zu finden ist. Wir glauben aber, dass die Arbeit mehr als der meist kolportierte Schenkelklopfer-Blindenwitz ist.


Jetzt aber genug über den Toatlkünstler von unsere Seite, es folgt der Text von Nico Anklam anlässlich der Ausstellung bei WENTRUP:

'WENTRUP freut sich die vierte Einzelausstellung von Timm Ulrichs zu präsentieren. Gezeigt wird die titelgebende Fotoserie Die Welt im Wohnzimmer. Das Fernsehgerät als Sockel und Hausaltar, 2001/09, sowie sieben kinetische Schaukelstühle, Außer Atem, 1989/95/96, und eine Auswahl der Tableau-Serie Versteinerter Himmel, 1983/96/97. Ausgeklügelt verknüpft der Totalkünstler und Konzeptkunstpionier Themen wie Behausung, Wohnung, Interieur, Mobiliar und mediale Vernetzung. Durch Eingriffe in Material und Funktion entstehen die für Ulrichs bekannten Verschiebungen des ästhetischen, historischen und sozialen Referenzrahmens von Alltagsgegenstand und Kunstwerk.

Die Welt im Wohnzimmer. Das Fernsehgerät als Sockel und Hausaltar zeigt Aufnahmen von Interieurs aus Wohnungen des slowenischen Städtchens Slovenj Gradec. Ulrichs hatte 2009 hier im Rahmen einer Ausstellung um Zugang zu privaten Räumen gebeten. Die daraus resultierenden Aufnahmen setzen immer die Oberkante des Fernsehgeräts als Horizontale in der Bildmitte fest. Auf den Fernsehern stehen allerlei Objekte, von der Trockenpflanze über Teddybären bis zur Marienstatuette. Unter der mittigen “Horizontlinie” summt wiederum radikal angeschnitten das Fernsehbild. Von der Sportreportage zum Nachrichtenkanal oder Wildlife-Doku – im Moment der Aufnahme liefen verschiedenste Programme, die unerwartete Karambolagen von Objekt und Bild produzieren. Das quadratische Format der Abzüge spielt hier einerseits auf die frühen Röhrenbildschirme an, die annähernd gleiche Kantenlängen hatten. Diese wurden rezent ersetzt durch immer weiter ausladende Horizontalen des Flachbildschirms und stehen auch im Kontrast zum extremen Hochformat auf Pads und Telefonen der letzten Jahre. Andererseits ist Die Welt im Wohnzimmer im Quadrat auch formal zwischen Porträt und Landschaftsdarstellung angesiedelt. Timm Ulrichs entwirft in diesem Sinn ein Porträt der Wohnungsbesitzer und dokumentiert gleichzeitig eine häuslich-mediale Landschaft. Matthias Reichelt identifiziert treffend im Katalogbeitrag wie drei muskelbepackte Bodybuilder auf der Mattscheibe zu Atlanten werden. Hier tragen sie jedoch nicht den Erdball auf ihren Rücken, sondern schultern eine Welt aus Stoffblumen, Porzellanelefanten oder einem Babyfoto im Goldrahmen. Die Welt im Wohnzimmer ist aber auch eine sozial-anthropologische Sicherung von einer bald verschwundenen “kulturellen Praxis, den Röhrenfernseher als Sockel zu verwenden”, wie Reichelt schreibt. Im Fernsehgerät der Nachkriegszeit kondensierte sich ein sozialer Versammlungsort, dessen Rolle zuvor die häusliche Feuerstelle oder der Kamin einnahm. Gerry Schums TV-Galerie ließ mit einem Beitrag von Jan Dibbets an acht aufeinanderfolgenden Tagen im Jahr 1969 das Fernsehprogramm für ein paar Minuten verschwinden und zeigte stattdessen ein Kaminfeuer. Das mediale Portal zur Welt schloss sich unverhofft und brachte die Betrachter in ihr Wohnzimmer zurück, wo ein Feuer im Kasten loderte. Als Präsentationsfläche für Familienfotos, Kitschobjekte und Devotionalien ersetzte der Fernseher das Klavier oder die Kommode, die im bildungsbürgerlichen respektive Biedermann’schen Salon, die bis dahin bevorzugte Abstellfläche für solche Objekte waren. Ulrichs’ Fotografien setzen dieser angesichts des Flachbildschirms fast vergangenen Praxis ein Denkmal.



Ein Screenshot der WENTRUP Website mit Arbeiten von Timm Ulrichs. Zu sehen ist ein Ausschnitt der Timm Ulrichs Performance 'Der Künstler als Aufseher' von 2009. © WENTRUP Gallery und Timm Ulrichs, VG Bild-Kunst

Zentral im Ausstellungsraum installiert ist Außer Atem. Bestehend aus einer Serie von sieben identischen Schaukelstühlen, die wie oft bei Ulrichs’ Möbelwerken eine prototypische Reinform anbieten. Ihre einfache und klare Formsprache erinnert an die nordamerikanischen Shaker-Stühle, wo sich auch historisch die Genese des Schaukelstuhls verorten lässt. In Kollaboration mit einem Drechsler aus Hartholz gebaut und in Grau gefasst, erfahren die Stühle jedoch einen entscheidenden Eingriff. Allen wurde ein Axial-Ventilator in der Rückenlehne eingebaut, dessen Gehäuse zur Sitzfläche zeigt und die Luft damit rücklings aus den Stühlen strömen lässt. Timm Ulrichs anthropomorphisiert den Stuhl, der nun selbst vor sich hin schaukelt. Oft löst Ulrichs in seinem Oeuvre den Stuhl aus seiner passiven Rolle und stattet ihn mit eigenem Handlungspotential aus. Die Installation Außer Atem steht insofern auch in Verbindung zu einer seiner bekanntesten Arbeiten: Der Sitzende Stuhl (nach langem Stehen sich zu Ruhe setzend) von 1970. Außer Atem rückbezieht sich auch auf die Geschichte der kinetischen Kunst, die entweder eines maschinellen Antriebs bedurfte oder sich der Naturelemente wie Wind bediente, um in Bewegung zu kommen. Timm Ulrichs’ Schaukelstühle Außer Atem verbinden beides.

Die Ausstellung Die Welt im Wohnzimmer schließt mit einem sinnbildlichen Blick aus dem Fenster. Timm Ulrichs inszeniert farbige Marmor- und Granitplatten als Versteinerten Himmel. Marmor aus Finnland kann Grün sein, portugiesischer Marmor kann wie der italienische ein helles Rot annehmen, während griechischer und makedonischer neben dem bekannten Carrara-Marmor ein helles Grau bis zu einem strahlenden Weiß entwickelt. Ulrichs rahmt quadratische Zuschnitte von verschiedensten Steinarten, und deren Adern tragen neben der Farbigkeit dazu bei, dass unweigerlich der Eindruck von Wolken zu verschiedenen Tages- oder Jahreszeiten am Himmel entsteht. Die hochwertigen Steinplatten sollten Timm Ulrichs dabei helfen, Landschaftsmalerei zu betreiben ohne malen zu müssen, wie er selbst sagt. Ulrichs stellt den Himmeln nun einen aus dem öffentlichen Raum bekannten Verbundstein der Gehwegpflasterung anbei. Wenn nicht flach als Kantenabschluss gelegt, sondern aufgestellt, werden die billigen Pflastersteine zu Steinhäusern mit Giebeldach, hinter denen sich ein unendlicher, steinerner Himmel erstreckt beim Blick hinaus aus dem Wohnzimmer.

Die erste Einzelausstellung von Timm Ulrichs (geboren 1940 in Berlin) fand 1969 im Museum Haus Lange in Krefeld statt. Im gleichen Jahr nahm Ulrichs außerdem an der von Konrad Fischer kuratierten Ausstellung “Konzeption – conception” im Museum Morsbroich in Leverkusen statt, die Konzeptkunst in Deutschland bekannt machte. 8 Jahre später nahm Timm Ulrichs an der documenta 6 in Kassel teil. In den vergangenen 50 Jahren hatte Timm Ulrichs zahlreiche nationale und internationale Einzel- und Gruppenausstellungen in Institutionen wie dem Museum Folkwang, Essen, Städtische Galerie im Lenbachhaus, München, Haus der Kunst, München, Museum für Konkrete Kunst Ingolstadt, Kunsthalle Düsseldorf, ZKM Karlsruhe, Staatsgalerie Stuttgart oder der Kestnergesellschaft Hannover in Deutschland. Hinzu kommen das Stedelijk Museum in Amsterdam, Holland, das Centre Pompidou, Paris, Frankreich und das Museum der Moderne in Salzburg, Österreich. Zu seinem 70. Geburtstag 2010 ehrten ihn das Sprengel Museum und der Kunstverein Hannover mit einer umfassenden Retrospektive.


(...).'


Service und Links
Timm Ulrichs - Die Welt im Wohnzimmer
Vernissage Freitag, 10. Februar, dann noch bis zum 15. April 2017

WENTRUP Gallery
Tempelhofer Ufer 22
10963 Berlin-Kreuzberg
 

- Timm Ulrichs bei WENTRUP, hier 
- Literatur von und über Timm Ulrichs, hier
- mehr über Timm Ulrichs, hier

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