Freitag, 10. Februar 2017

Bonn: Touchdown - Die ausführlichere Kritik...


Bis heute wird in der Öffentlichkeit kaum über die Morde im Rahmen des NS-Euthanasie-Programms gesprochen. Aber ein Bischof aus Münster tat dies bereits 1941. Er hieß Clemens August Graf von Galen und seine bewegende Predigt in der Münsteraner Kirche St. Lamberti ist Teil der Ausstellung Touchdown in Bonn. 

'Die meisten von uns werden abgetrieben...' lautet ein Statement in der Bonner Ausstellung. Zu sehen ist auch eine amtliche Mitteilung an einen Vater, dessen Tochter in den 1940er Jahren angeblich an einer Kette unvermeidlicher Krankheiten starb. Das kühle Schreiben informiert den Mann über Tod seines Kindes und fragt ihn, wo die Asche hingesandt werden soll. Wenn er nicht binnen einer kurzen Frist reagiere, werde die Asche anonym bestattet, heißt es weiter. Mehrmals markierte der Vater mit blauen Kugelschreiber die den Tod erklärenden Diagnosen des Schreibens in Großbuchstaben als Lüge.

Oben an den Wänden, nahe der Decke des dunkel gehaltenen Raumes zur NS-Geschichte, wo das erschütternde Schreiben in einer Vitrine ausgestellt wird, ist auch eine Empfehlung zu lesen. Die Verbliebenen würden den Tod ihrer Verwandten leichter verkraften, wenn man ihn als Folge von schweren, natürlichen Krankheiten erkläre. Also nicht als gezielte Tötung, als bewusste, systematische Auslöschung sogenannter volksschädlicher Individuen, die im Rahmen der nationalsozialistischen „Rassenhygiene“ tausendfach vollzogen wurde.        


Der 2011 verstorbene Künstler Clemens Martin Theo Baron hatte viele Talente, in Bonn sind 5 Zeichnungen aus einer Serie von 20 zu sehen, sie zeigen, dass er sich offen zu seiner Homosexualität bekannte. © Clemens Martin Theo Baron

Wer sind wir? Eine kulturhistorische und experimentelle Spurensuche in unserer Vergangenheit und Gegenwart 

Ja, die systematische Ermordung behinderten Lebens durch das NS-Regime gehört zur Geschichte des Down-Syndroms. Wer sich mit ihm befasst, stößt zwangsläufig darauf. Doch dieses düstere Kapitel steht nicht im Zentrum der Bonner Ausstellung Touchdown. Ihr gelingt es, dank der innovativen, breite Zielgruppen ansprechenden Inszenierung einen Blick auf die ganze Wirklichkeit, die Vielseitigkeit des Lebens von Menschen mit Down-Syndrom zu ermöglichen. Es scheint, als hätten sich die Ausstellungsmacher von dem Science-Fiction-Film (the cube), den wir in der Vorankündigung dieser Rezension bereits erwähnten, inspirieren lassen.
 
Aus der Perspektive von Außerirdischen... 


wirft die Ausstellung einen Blick auf das Leben von Menschen mit Down-Syndrom. Das Konzept lautet wie folgt: Im Oktober 2016 landen 7 Astronauten und Astronautinnen von einem fremden Planeten auf der Erde. Sie nennen sich „Second Mission”. Sie haben das Down-Syndrom. Vor 5.000 Jahren sind die ersten Außerirdischen ihrer Art auf der Erde gelandet. Die Second Mission hat den Auftrag zu überprüfen, wie es den ersten Siedlern und Siedlerinnen ergangen ist und wie ihre Nachfahren heute leben. Als lebensgroße Comic-Figuren begleiten die Astronauten die Besucher und Besucherinnen durch die Ausstellung.

Was ist eigentlich normal? 


Die vom Künstler Vincent Burmeister geschaffenen Comic-Figuren auf den Ausstellungswänden gliedern und kommentieren die Ausstellung zugleich - ein lobenswertes Beispiel von intelligentem, niederschwelligem Ausstellungsdesign. Touchdown zeigt die dunkle Seite der Geschichte von Menschen mit Down-Syndromklar klar und deutlich. Aber sie ist nur ein Teil des Ganzen, denn zugleich weist Tochdown weit darüber hinaus. Sie spannt einen kulturhistorischen Bogen von einer antiken, mittelamerikanischen Hochkultur, deren steinerne Kinderfiguren scheinbar eindeutig auf das Down-Syndrom verweisen, bis in die Gegenwart.

Auch in Bonn zu sehen: Marie Bodson, Ohne Titel (Liebespaar), Serie von 4 Zeichnungen © Marie Bodson

Dürfen Menschen mit Down-Syndrom heiraten, Eltern werden? 

Mittelalterliche Schriften zeugen davon, das die Fürsorge für Menschen mit Behinderungen eine christliche wie rechtliche Pflicht für deren Verwandte war. Und natürlich wird auch die Geschichte des englischen Arztes John Langdon Down (1828–1896) erzählt, nach dem das Down-Syndrom benannt ist und der sich vorbildlich für Menschen mit Down-Syndrom einsetzte. Besonders hervorzuheben sind auch die persönlichen Kommentare der an der Ausstellung beteiligten Menschen mit Down-Syndrom.

Inklusion und Exklusion 


Gleich zu Beginn der Ausstellung kann man sich - dank einer Audioarbeit - ein sehr persönliches Bild von ihrem Leben machen. Ganz konkret, humorvoll, traurig und mutig berichten sie von ihrem Leben, ihren Problemen und Träumen. Die für die Empathie und Sensibilisierung der vermeintlich normalen Menschen so wichtigen Fragen - Wie leben sie? Wovon träumen sie? Welche Rolle spielen Beziehungen, Liebe und Sexualität? Wo hindern Grenzen? - werden hier sympathisch wie intelligent beantwortet.

Das hier gezeigte Werk wird einem Schüler von Jan Joest von Kalkar zugeschrieben (um 1515). Warum dieses Bild? Ganz einfach. Ein Engel und die oben in der Mitte abgebildete Figur erinnern an Menschen mit Down-Syndrom.

Wer wollen wir sein? 

Auf diese Weise und durch den ausstellungsgeführten Blick auf die Geschichte der noch immer Ausgesonderten kommt man schnell zu den wesentlichen Grundfragen unseres (Zusammen-)Lebens: Wie offen sind wir wirklich für Anders-Sein und Abweichung von der Norm? Als Gesellschaft und als Individuum? Wie groß ist die Diskrepanz zwischen den Bekundungen und den Fakten, etwa die Zahl der Abbrüche von Schwangerschaften, wenn die Diagnose Trisomie 21 lautet.

Vorab sei nur so viel verraten: Es sind sehr ernüchternde Zahlen. Aber der Ausstellung in Bonn gelingt es, die Mut machenden Beispiele in den Vordergrund zu stellen. Also, auf nach Bonn!
 

Service und Links
- die Website zur Ausstellung Touchdown in der Bonner Bundeskunsthalle, hier  
- die Galen-Predigt von 1941, hier
- SWR2-Kulturgespräch mit Katja de Bragança über Touchdown, hier
- die NOZ über die Bonner Ausstellung Touchdown, hier
- Merle Schmalenbach liefert im Dezember 2016 für die Zeit eine Rezension von Touchdown, erschienen in Christ&Welt, hier
- Christiane Hoffmans für die WELT über Touchdown in Bonn, hier 

- Michael Köhler über Touchdown in der Bundeskunsthalle Bonn - die erste Ausstellung über die Geschichte des Down-Syndroms, hier
- spannende Diskussion: Menschen mit Behinderung - Vom Hochschuldozenten bis zum Museumsführer. Wie leben eigentlich Menschen mit einer Behinderung in unserer Gesellschaft und welche besonderen Bedürfnisse haben sie? Um das herauszufinden, fragt man sie am besten selbst, hört ihnen zu und lässt sie als Experten in eigener Sache zu Wort kommen, hier
- mehr über die Früherkennung des Down-Syndroms, Test mit einer "verheerenden Botschaft" – so Gisela Höhne im Gespräch mit Nana Brink, hier
- Susanne Arlt berichtet über Lehrer und Schauspieler mit Down-Syndrom, hier

- mehr über den im Text erwähnten Science-Fiction-Thriller Cube von 1997, hier

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